Eine neue Form der Dichtung, lebendig bis heute:
die Sijo  - Kurzgedichte

Ein Übergang – nicht nur in der Literatur

Dr. Hans-Jürgen Zaborowski


Volkstümlich waren in der Koryo–Zeit (938-1392) die Langgedichte Changga, eine Art des Kettengedichts, mit mehreren oder zahlreiche kurzen Versen, die von einem Refrain unterbrochen wurden.  Bei der gebildeten Oberschicht beliebt war seit der Mitte des 13. Jahrhunderts eine andere, neue Form des Kettengedichts, die aus einer festen Anzahl chinesischer Zeichen bestanden. Sie erwecken fast den Eindruck, dass sie nur Gelegenheit bieten sollten, den an China orientierten Bildungsstand der Verfasser zu zeigen. Zwischen den vierbeinigen Strophen ist ebenfalls ein Refrain auffallend. Es ist schwierig zu sagen, ob dieser Refrain die inhaltlich oft selbständigen Verse trennt – oder ob er eine rein formelle Klammer darstellt, die allein die Form noch zusammenhält. Angelegt sind sowohl in der volkstümlichen wie auch in der elitären Gedichtform Auflösungstendenzen – hin zu neuen Gattungen der koreanischen Lyrik, die während der gesamten Yi-Dynastie (1392 – 1910), ja, bis in die Moderne, in die Gegenwart hinein produktiv gewesen und geblieben sind.  Das Entstehen neuer Formen in der Literatur spiegelt die Veränderungen der politischen Situation Koreas wider.
 Über eineinhalb Jahrhunderte hatte Korea unter der Oberhoheit der Mongolen gestanden. Nachdem diese 1368 in China entmachte worden waren, dort eine neue, eine nationale chinesische Dynastie die Macht übernahm und bis 1644 ausübte,  war die Loyalität der Koreaner auf eine harte Probe gestellt. Es war üblich, sich den jeweiligen Herrscherhäusern in China anzuschließen, sich in die chinesische Weltordnung einzugliedern. Doch die Verbindung zu den Mongolen war so eng wie es nie in der koreanischen Geschichte sonst eine Verbindung zu einem anderen, fremden Volk gewesen war oder sein würde. Eheschließungen im Königshaus und in der Oberschicht mit den Mongolen hatten zu verwandtschaftlichen Bindungen geführt. Sogar die letzten Herrscher der Koryo-Dynastie hatten mongolische Mütter. Gewaltsame Auseinandersetzungen gipfelten 1392 in einem Staatsstreich, mit dem sich eine China zugewandte neue Dynastie etablierte, die von der neuen Hauptstadt Seoul aus  bis ins 20. Jahrhundert das Land regieren sollte.  


Eine Epoche geht zu Ende

Die ältesten Beispiele für Gedichte in der neuen Form sind in den letzten Jahren der Koryo–Zeit entstanden. Das knappe Sijo „Zeit–Gedicht“ wurde zu vorgegebenen Melodien improvisiert. Es besteht aus drei Zeilen, die eine interessante Struktur aufweisen: es finden sich vier Silbengruppen, von denen die erste und  zweite, die dritte und vierte grammatische Einheiten darstellen. Streng reglementierte Teile mit fester Silbenzahl stehen anderen gegenüber, die ihrem Aufbau nach variieren, die unterschiedlich lang sein können. Ordnung wechselt mit Freiheit – darin liegt eine  große Dynamik der Ausdrucksmöglichkeiten. Die einzelnen Silbengruppen sind auch bedeutungsmäßig Einheiten, die Zeilen entsprechen jeweils Sätzen. Inhaltlich lebt die Form  von einer inneren Entwicklung: ein Thema wird gesetzt, wird in der zweiten Zeile ausgeführt, die dritte Zeile bietet ein Gegenthema.
 Schon in einem der ältesten überlieferten Texte der Sijo–Form wird dieser Aufbau deutlich. Es ist dies das Gedicht eines bedeutenden konfuzianischen Denkers und Staatsbeamten der Koryo-Zeit, von  Yi Saek (1328 – 1396). In den Wirren der letzten Jahre der Dynastie, die zum Staatsstreich führten und zur Ablösung des Königshauses, blieb er loyal, verweigerte sich wie die meisten seiner Schüler den neuen Machthabern. Die Treue, die Loyalität war eine der höchsten Tugenden bei den Konfuzianern. Sein Gedicht ist wahrscheinlich in den letzten Tagen Koryos entstanden:

„Weißer Schnee, fast schon geschwunden im Tal.
Dunkle Wolken jäh tauchen auf.

Liebliche Pflaumenblüte –
Wo blühte sie noch?

In der Abenddämmerung steh‘ ich allein und
Weiß nicht mehr ein noch aus.“

 Auf den ersten Blick könnte man dies für ein Stück Naturlyrik halten. Aber – es ist ein politisches Gedicht, das von Bildern lebt, die aus der chinesischen Literatur stammen, die hier in vollkommener Weise in den koreanischen Zusammenhang eingepaßt sind. Hauptmotiv ist die Einsamkeit eines aufrechten Hofbeamten, der auch – ja gerade – in schwierigen Zeiten zu seinem Herrscher steht, ihm treu ergeben ist. Ein sehr altes Thema auch der chinesischen Dichtung. Yi Saek beschreibt eine Untergangsstimmung. Der Schnee, der vergänglich ist ebenso wie gefallenen Blütenblätter, steht auch für hohes Alter. Schon einige hundert Jahre übte die Dynastie, die noch regiert, die Macht im Lande aus, die ihr erkennbar aus den Händen zu gleiten droht. Dunkle Wolken kündigen den Wechsel an, bringen Unbeständigkeit. Der Pflaumenbaum gehört zu den Symbolen, die gerne für tiefe Freundschaft verwendet werden, die auch Widrigkeiten übersteht, für Freunde, die sich die Treue halten. Denn – der Pflaumenbaum zeigt seine Blüten schon lange, bevor er Blätter ansetzt, schon in der kalten Jahreszeit. Diese Blüten sind nicht mehr zu finden. So – wie die Freunde des Dichters, wie seine Schüler, mit denen er im Lande Verantwortung übernommen und getragen hatte, nicht mehr unter den Lebenden weilen. Der Dichter fühlt sich einsam, allein. Angesichts der untergehenden Sonne ist von Schmerz über den Abschied erfüllt, sein Leben erscheint ihm  ohne Sinn.  


Von der Treue zur Liebe

Die Dichtungen in Sijo–Form umspannen die ganze Vielfalt menschlichen Fühlens und Denkens. Es sind, wie auch schon in den Gedichten der Koryo–Zeit, vor allem Frauen,  die zu ergreifendem Ausdruck der Tiefe ihrer Empfindungen fähig sind. Ein Beispiel dafür ist das Lied einer Frau, die offensichtlich von dem geliebten Mann verlassen worden ist. Sie durfte ihm, der einer höheren Gesellschaftsschicht angehörte, dienen, sie durfte ihn lieben – aber nicht auf Dauer seine Ehefrau werden:

„Ich schick‘ dir diesen Weidenzweig,
gesucht, gebrochen nur für dich.

Pflanz du ihn vor das Fenster, wo du schläfst,
dass du ihn wachsen sehen kannst.

Und wenn der regen in der Nacht die Blätter dann entfaltet,
schau sie dir an, wie du mich angesehen.“

Ihre ganze Liebe scheint in diesem Weidenzweig konzentriert.  Ein abgebrochener Zweig als Symbol der Liebe – das scheint zuerst einmal kaum zu passen. Doch damit versucht sie, den Geliebten immer wieder auf sich aufmerksam zu machen. Auch wenn sie weiß, dass sie ihr letztes Ziel nie erreichen kann, lebt sie von der Hoffnung, für die Hoffnung

 Das wohl am häufigsten zitierte Beispiel der Sijo–Literatur stammt ebenfalls von einer Frau. Sie hieß Hwang Chini (etwa 1516-1544), war nicht  nur eine außergewöhnliche Schönheit, sondern landesweit berühmt für ihre Dichtkunst, für ihre musikalische Begabung. Ihre Verführungskunst war sprichwörtlich, zu ihren „Opfern“ gehörten sowohl buddhistische Mönche wie auch konfuzianische Gelehrte.  Auch ihr Thema ist die Gefühlswelt, ist die Liebe:

„Mittwinter, zu lang die Nacht –
zwei Hälften möchte ich daraus machen.

Und die zusammenrollen, stecken in
Die Decke für die Frühlingsnacht.

Und wenn der Liebste wieder kommt zu mir,
roll ich sie wieder auf, damit die Nacht zu strecken.“

Einsam muß sie die kalte Nacht zur Zeit der Wintersonnwende verbringen. Davon ein Stück aufheben zu können für den Frühling, für die Zeit der Liebe, wenn die Nächte wieder kürzer werden,  ist das nicht eine reizvolle Idee!